Nuckel raus!

Jul 19, 2013 | Allgemein

Raus damit! Aber sofort!

Oh was ist denn das? Der muss aber weg. Der Osterhase tauscht ihn ein oder auch der Weihnachtsmann. Das kannst du nicht mehr haben, du bist doch schon groß. Das macht ein schiefes Gebiss und reden lernst du auch nicht damit.

So oder so ähnlich, ergeht es vielen kleinen Zwergen, die ihren geliebten Nuckel im Mund haben oder gar ihren Daumen und auf eine verständnislose und belehrende Erwachsenenwelt prallen.

Ich bin versucht mein Kind da reflexartig in Schutz zu nehmen, weil mir die Übergriffe manchmal selbstredend zu über-griffig sind. Aber ich spiele dann keine Rolle. Ich bin in diesen Exzessen nicht mal existent! Dann setzt mein beruflicher Verstand ein und ich denke mir, wer hat es eigentlich erfunden, den Nuckel so zu verdammen?

Der Mund ist eine der ersten Körperregion, über die unsere Kinder die Welt erkunden und erforschen können. Orales Explorieren sagt man dazu in der Entwicklungs-neurologie. Wichtige Funktion, darin sind sich die Experten einig. Schon im Mutterleib kann man dies mit modernen Bild-gebenden Verfahren beobachten. Ganz wichtig, das Nuckeln und Saugen ist kein bloßer Reflex, wie man jahrelang missverständlich angenommen hat. Das Saugen dient ganz bewusst zur Nahrungsaufnahme und das Nuckeln ist eine lustvolle Bewegung des Mundes und der Zunge, welches ein Ziel verfolgt; nämlich der Selbstregulation in stressigen Situationen. Somit eine sehr sinnvolle und zielgerichtete Tätigkeit.

Wenn wir unsere Kinder beobachten, sind es dann genau die Phasen in denen das Nuckeln oder wahlweise auch der Daumen benutzt wird, in denen sie müde werden, aus dem Kindergarten nach Hause gehen, sehr viel erlebt haben und dieses verarbeiten oder einfach einem gewissen Stress ausgesetzt waren.
Diesen Mechanismus kennen wir auch von uns Erwachsenen. Manche trinken einen Kaffee oder zwei, einige rauchen und manchen essen nach Herzenslust nach ähnlich stressigen Situationen in der Erwachsenenwelt.
Springender Punkt ist, dass wir Erwachsenen eine kompensatorische Strategie entwickelt haben, die nicht ganz so blöd aussieht, wie ein Nuckel zwischen den Zähnen. Aber der Mund spielt nach wie vor eine Rolle im Umgang mit Emotionen.
Nicht ganz unerheblich wie ich finde. Der Bleistift muss herhalten, die Fingernägel werden malträtiert und auf die Lippe muss man sich beißen, wenn der Gegenüber sich wieder nicht ein-bekommt usw…
Und um Stress-Vermeidung im allgemeinen geht es nicht unbedingt, bei Erwachsenen wie Kindern. Es geht um den sinnvollen Umgang damit.

Diesen Weg müssen wir eben auch gehen, wenn wir den Kindern schon das Nuckeln abgewöhnen wollen oder müssen. Das Kind braucht eine Alternative, um sich herunter zu fahren und evtl. Dinge verarbeiten zu können. Man wird feststellen, dass gerade bei jungen Kindern, die Alternative, wenn der Nuckel schon weg ist, das angekaute Bärchen-ohr oder der an-gesabberte Bettchenbezug ist. Ich bin mir nicht sicher, ob das mehr Freude bereitet.

Remo Largo, Schweizer Kinderarzt und Publizist, gibt an, dass 35% aller 5 jährigen Kinder noch nuckeln. Und hierbei handelt es sich um normalentwickelte Kinder! Also warum etwas abgewöhnen, das für Kinder oft sinnvoll ist? Denn diese Form der Selbstregulation ist eine der ersten selbstbestimmten Tätigkeit überhaupt. Und dieses bietet den Kindern vor allem eines: Autonomie.

Aber manche Kinder saugen sehr viel, oft und vor allem dauernd. Ursachen dafür können mannigfaltig sein. Überforderung von Spielsituationen, zu viel Fernsehen, keine Ruhephasen, nicht genug Schlaf, Lernbehinderungen,… Vieles kann eine Rolle spielen. Umso genauer gilt es zu beobachten. Also das eigene Kind lesen (im wörtlichen Sinne), Ruhephasen schaffen und einfach Kind Kind sein lassen. Manchmal legen die Kinder solche Angewohnheiten ganz von alleine ab und Mami oder Omi hätten sich den ewigen Streit darum sparen können.

Wer mit den Omas und den Nachbar zu kämpfen hat, wen sie nicht mal „Guten Tag“ sagen, sondern sich gleich auf das arme Kind stürzen, helfen vielleicht meine Zeilen. Wer auf die ewige Diskussion um Zahnstellung und Sprache keine Lust hat der zitiere eine geschätzte Kinderärztin von mir:

Als erstes kommt die Seele, dann die Zähne.

Michael Schiewack

 

Literatur Empfehlung:

Baby Jahre – Remo Largo